Breitenworbis um 1900 |
Aufsatz von Lothar Nolte, ca. 1942 |
Im Eichsfelder Kessel liegt am Südhange des Ohmgebirges, an der Reichsstrasse 80 (Halle-Kassel) der Ort
Breitenworbis. Nach der ursprünglichen Anlage der Häuser und Straßen rechnet man Breitenworbis zu den
Haufendörfern. Die Unregelmäßigkeit der Dorfanlage ist aber durch die wiederholten Brände fast vollständig
verschwunden, indem man beim Wiederaufbau fast gerade Straßenzüge anlegte. So fällt der heutige Dorfplan durch
gradlinige, regelmäßige Straßen auf. Die Bevölkerung von Breitenworbis war in früheren Zeiten rein katholisch. Breitenworbis ist wie alle eichsfeldische Dörfer ein Ort, in dem die Beschäftigung mit der Landwirtschaft an erster Stelle steht. Der fruchtbare Boden im Kessel lockte schon in frühen Zeiten zu einer verhältnismäßig starken Besiedlung und erzog die Anbauer zu einer mit Verständnis und Fleiß betriebenen Wirtschaftsweise. In Folge der hier herrschenden Realteilung kam es zu einer auffallend starken Zersplitterung des Grundbesitzes, sodass die meisten Bauern nur als Kleinbauern anzusprechen sind. An der Entstehung der Zwergwirtschaft trägt auch der Landhunger der Industriebevölkerung bei, die seit dem 18 Jahrhundert einen immer größer werdenden Teil der Gesamtbevölkerung ausmacht. Der rein landwirtschaftliche Charakter des Dorfes erfuhr am Ende des 18 Jahrhunderts eine starke Umwandlung, indem eine lebhaft betriebene Hausindustrie einsetzte und bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das wirtschaftliche Leben in außergewöhnlicher Weise beeinflusste. Breitenworbis wurde Mittelpunkt einer blühenden Textilindustrie. Günstige Bedingungen förderten diesen Wirtschaftszweig. Der Flachs gedieh auf dem guten Boden vortrefflich, und die Wiesen an der Wipper und am Rhin boten ausgezeichnete Bleichplätze. Arbeitsplätze waren auch in reicher Anzahl vorhanden. Die Bewohner fanden im Spinnen und weben eine willkommene zusätzliche Beschäftigung zu ihren landwirtschaftlichen Kleinbetrieben. Die in hiesiger Gegend verfertigte Leinwand war meistens von mittlerer Sorte und wurde von Breitenworbiser Fuhrunternehmen nach Bremen, Hildesheim, Leipzig, Frankfurt und Straßburg verfrachtet. Breitenworbis liegt an der alten Verkehrsstraße, die das Eichsfeld von Westen nach Osten durchläuft, es ist die Rheinstraße, die von Köln Kassel kommend, nach Nordhausen Halle Leipzig und Berlin weitergeht. Der andere wichtige Handelsweg, der das Eichsfeld durchschneidet, dringt von Süden nach Norden und stellt die Verbindung zwischen den großen süddeutschen Handelsstädten und den niederdeutschen Verkehrsplätzen Braunschweig, Hamburg und Lübeck her. An dieser Verkehrsstraße liegt unser Dorf nicht unmittelbar, aber die geringe Entfernung davon, etwa 5 km ostwärts, hat die wirtschaftliche Entwicklung nur günstig beeinflussen können. Diese alten Handelswege haben in der neueren Zeit ihre Fortsetzung in den Fernstraßen und Eisenbahnlinien gefunden, deren Bedeutung sich aber nicht mit früher verkehrsreichen Landstraßen messen kann. Bei solch günstigen Voraussetzungen konnte das Fuhrmannsgewerbe eine bedeutungsvolle Stellung im Wirtschaftsleben dieses Ländchens einnehmen. Der Transport der erzeugten heimischen Waren und die Vorspanndienste, die in dem hügelichen Gelände für die großen Durchgangsfuhren nötig waren, förderte auf das Stärkste dieses Gewerbe, So herrschte in den früheren Zeiten auf den eichsfeldischen Straßen ein lebhafter Verkehr. Es hielten einige Bauern, auch bei uns in Breitenworbis bis über 20 Pferde, die für die Durchführung des Frachtwagenverkehrs notwendig waren. Ein solcher eichsfeldischer Frachtwagen war ein großes, aus festem Holz verfertigtes Fahrzeug, mit einer Plane überspannt. Vorn war der Kutschersitz angebracht, die sogenannte Schoßkelle. Unter dem Wagen war das Schiff angebracht, welches Futter für die Pferde enthielt, und wenn ein solcher Wagen Fässer mit dem beliebten Nordhäuser Schnaps beförderte, so lag auch hier ein Fässchen mit dem sogenannten Füllschnaps für die Fuhrleute. An den Seiten hingen aus Weide geflochtene kleine Körbe, die zur Aufbewahrung von Lebensmitteln für die Fuhrleute und sonstigen kleineren Gebrauchsgegenständen dienten. Die Fuhrleute schritten langsam und würdevoll neben den Wagen her, die Peitsche in der Hand, mit einem blauen Kittel, dem Spanskittel angetan, die kurze Pfeife im Munde, ein buntes Tuch um den Hals lose gebunden, auf dem Kopf einen dunklen Hut mit breiter hochgeschlagener weißer Krempe, Hosen unten in geschnürten Gamaschen zusammengefasst und sich in den hohen Schuhen verlierend. Starke Pferde, gewöhnlich vier an der Zahl, zogen die schwer beladenen Wagen. Die Tiere trugen wuchtige Kummete an den Hälsen. Das Pferdegeschirr war reichlich geschmückt mit Scheibenbändern d.h. glänzende Scheiben aus Messing, die an beiden Seiten herabhingen. Dieses stolze Fuhrmannsgewerbe musste natürlich verschwinden, als die Maschinen auch durch dieses Ländchen ihren Siegeszug hielt. Die Fuhr- und Handelsleute mussten sich umstellen; die meisten zogen sich wieder auf ihre rein bäuerliche Betätigung zurück. Auch der Textilindustrie wurde durch die Erfindung des mechanischen Webstuhles die Axt an die Wurzel gelegt. Die Weber waren zu kapitalschwach, um Maschinen anzuschaffen und wurden so zur Aufgabe ihres Gewerbes gezwungen. Auch fehlte im Eichsfeld der wirtschaftliche Führer, der die Zeichen der Zeit verstand und den Anschluss an die aufkommende Maschinenindustrie herbeiführte. Zwar versuchte die Regierung den drohenden Verfall aufzuhalten. So errichtete 1885 auf Anregung der Regierung der Fabrikant Johannes Henning eine Niederlassung, die schon 1890 in Breitenworbis und der nächsten Umgebung 1800 1900 Webstühle beschäftigte. Doch ist auch dieser Betreib durch eine Brandkatastrophe, die das Dorf befallen hatte, eingegangen. Der große Brand am 1. August 1893 war wohl die schwerste Heimsuchung, die jemals über das Dorf hereinbrach. Der folgende Zeitungsausschnitt lässt die Größe des Unglücks erahnen: Die Hand Gottes des Allmächtigen hat nach unerforschlichen Ratschlüssen unseren Ort Breitenworbis gar schwer heimgesucht. Am 1. August 2 ½ Uhr nachmittags brach dahier ein verheerendes Feuer aus, das bei der Dürre und dem stark schürenden Winde in einigen Stunden 109 Wohnhäuser mit allen Scheunen, Ställen und Nebengebäuden und allen schon eingefahrenen Früchten, Heu und Klee in Asche legte. Über 1400 Menschen sind obdachlos sowie Brotlos geworden, die meisten vollständig an den Bettelstab gebracht. Viel Vieh ist in den Flammen umgekommen. Zwei Männer sind schwer verletzt, ein Kind vollständig verkohlt. Die meisten haben, weil sie auf dem Felde mit der Ernte beschäftigt, vom Inventar gar nichts gerettet, nur das nackte Leben, ihr Wohnhaus nicht wiedergesehen. Sie sind von allem entblößt, haben kein Geld, keine Kleidung, kein Bett, nicht die geringsten Hausgeräte, kein Futter für das gerettete Vieh, keine Wohnung. Was die Not noch größer macht, ist, das die Gebäude nur sehr gering, das Inventar gar nicht versichert war, dagegen die meisten schwer verschuldet sind. Wie im ganzen Eichsfeld ist hier Armut, Verdienstlosigkeit, die Gewerbe stocken. Hart sind die Handwerker betroffen. Über 300 Webstühle, das ganze Handwerkzeug von 3 Tischlereien und zwei Wagners ist mit verbrannt, ebenso der gesamte Holzvorrat. Es ist ein Jammer, die größte schauerliche Brandstätte zu betrachten, ein noch größerer Jammer aber noch, die vielen unglücklichen Menschen zu sehen, händeringend hinausschauend in eine düstere Zukunft. Ihr schrecklicher Zustand hat die Barmherzigkeit aller derer wachgerufen, die mit eigenen Augen gesehen haben, dass hier in der Schilderung des Elends nichts übertrieben, ein treues Bild des Jammers nicht beantwortet werden kann. Reichliche Spenden sind zwar von allen Seiten eingegangen. Diese haben jedoch bei der großen Zahl der Unglücklichen nur hingereicht, den ersten Hunger zu stillen und notdürftig die Blöße zu bedecken. Vieles fehlt noch. Habt Erbarmen, Ihr Mitchristen, lasset doch durch das namenlose Unglück so vieler und so schwer Heimgesuchter erschüttert, Eure wohltätige Hand sich öffnen, helft um Gottes Willen die Not lindern, die Tränen trocknen. Der Herr selbst, der verheißen hat, keinen Trunk kalten Wassers in seinen Namen gereicht, unbelohnt zu lassen, wirds euch vergelten. Alle Redaktionen der Zeitungen und Lokalblätter werden dringend gebeten, diesen Aufruf in ihre Blätter unentgeltlich aufzunehmen und zu verbreiten. Milde Gaben für unsere armen Abgebrannten bitten wir an das unterzeichnete Komitee zu übersenden. Breitenworbis, den 1.8. Das Hilfskomitee Gez.: König, Dechant Adam, Schulze Henkel, Ökonom Holle, Pensionär Völker, Lehrer Große, Altarrist. Auf diesen Anruf gingen etwa 32 000 Taler ein, die an die Abgebrannte verteilt wurden. Die Gemeinde ihrerseits bewilligte hierzu 1 800 Taler. Mit ungebrochenem Mut und zäher Ausdauer gingen die Breitenworbiser an den Wiederaufbau. Die Regierung hatte den Regierungsbaumeister Rickert aus Erfurt entsandt, der die Pläne für die Neugestaltung des Dorfbildes ausarbeitete und dabei ein gradliniges Straßennetz anlegte. Inzwischen hatte die maschinelle Entwicklung der Textilindustrie außerhalb des Eichsfeldes solche Fortschritte gemacht, dass die Manufakturen im Eichsfeld angesichts der Gewaltigen Konkurrenz zum allmählichen Erliegen kamen. Der Verdienst bei der Weberei war zu gering geworden. Klapperten noch im Jahre 1890 etwa 120 Webstühle, so verstummten sie fast völlig vor der Jahrhundertwende. Die arbeitsfähige Bevölkerung, ob jung oder alt, musste auswärts eine Beschäftigung suchen. Als Erdarbeiter, Steinschläger, Maurer, Schachtmeister, Musikanten, Lehrer und Beamte fanden sie in ganz Deutschland eine Möglichkeit, durch Fleiß, Sparsamkeit und Intelligenz als bevorzugte Arbeitskräfte gesicherte Stellungen zu erwerben. So entstanden in dieser Zeit hier mehrere Tiefbauunternehmen, welche in ganz Deutschland größere Brücken-, Straßen- und Eisenbahnbauten durchführten. Der Tiefbauunternehmer Reinhard besaß für die derzeitigen Verhältnisse in der ganzen Umgebung den größten Maschinenpark und war in der Lage, mit seinem Gleismaterial eine Feldbahn von Worbis nach Großbodungen zweigleisig zu bauen; das sind 25 km. Diese Bauunternehmer führten vor allen in der Rhön und in Norddeutschland Separationsarbeiten durch. Auch viele Frauen waren gezwungen, auf den Zuckerfabriken bei Magdeburg, Braunschweig u. a. Orten oder beim Spargelstechen u.s.w. ihr Brot zu verdienen. Im Jahre 1896 betrug die Zahl derer, die auswärts ihren Lebensunterhalt bestritten, annähernd 900. Der Staat versuchte nun den Mangel an Arbeitsstellen entgegenzutreten, indem er in Breitenworbis sogenannte Notstandsarbeiten verrichten ließ. Es wurden einige Steinbrüche und zwei Ziegeleien errichtet und die Straßen in und um Breitenworbis instandgesetzt. Ein großes, geräumiges Schulgebäude, sowie ein großes Krankenhaus und ein großer Gemeindesaal wurden erbaut, stabile große Brücken über den Rhin errichtet und Bürgersteige in den Straßen gelegt. Der Rhin, der früher durch die Straßen von Breitenworbis floss, wurde kanalisiert. Durch diese Arbeiten, die von den Reparationszahlungen, welche Frankreich durch den Krieg 1870-71 auferlegt worden waren, finanziert wurden, wurde das Dorfbild von Breitenworbis verschönert und der Ortschaft ein städtisches Gepräge aufgedrückt. Am 1. Mai 1900 legte ein verheerendes Feuer 26 Gehöfte am Anger und in der Kirchstraße in Asche. Bei diesem Brande war das Unglück leichter zu ertragen, da die Betroffenen besser versichert waren. Am 3. Juli 1905, nachts 24 Uhr, gellte das erschreckende Feuerhorn abermals durch die Straßen. Es brannten in der Langen Straße 14 Besitzungen vollständig nieder. Das Jahr 1904 bedeutete für unser Dorf eine völlige Umwandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Aktiengesellschaft Deutsche Kaliwerke teufte unweit des Dorfes den Kalischacht Preußen ab. Über 300 Arbeiter fanden darin lohnenden Verdienst. Später entstand daneben der zweite Schacht Sachsen. Auch für die weiblichen Arbeitskräfte gab es nunmehr Arbeit im Heimatdorf. Zwei Zigarrenfabriken Wendt aus Bremen und Martini aus Mühlhausen wurden eröffnet. Um 1900 bestand in Breitenworbis eine räumlich getrennte Knaben- und Mädchenschule mit einer Ober- und Unterklasse, von denen jede nur täglich einmal Unterricht erhielt. Zwei Lehrer unterrichteten in Schulräumen, die zum Teil nur durch eine Spanische Wand von der Küche des Lehrers getrennt waren und in denen sich daher Schuldunst und Kochdunst miteinander mischten und einen wundervollen Mief erzeugten. Die Lehrer bekleideten auch noch viele andere Ämter im Dorfe. So erledigten sie die Schreibereien der Kirche und Gemeinde, stellten die Kirchenuhr, spielten die Orgel in der Kirche und waren für das Läuten der Kirchenglocken verantwortlich. Der Organistendienst war ursprünglich nicht mit dem Schuldienst verbunden, sondern von Männern versehen, die für dieses Amt ausgebildet waren. Da aber das Organistengehalt allein nicht zum Lebensunterhalt ausreichte, betrieb der Organist noch ein Handwerk. Die Frau des Lehrers gab den Handarbeitsunterricht, doch viel dieser in Anbetracht der vielen Kinder des Lehrers öfters aus. Die Lehrer wurden von der Gemeinde entlohnt. Aus dem Jahre 1880 liegt ein genauer Nachweis des Einkommens des Knabenschullehrers vor: I.an baren Gelde: 1.aus den Kirchenanniverarien Stiftungen 47 Taler 16 sgr 9 Pfennige Die Schulaufsicht übte zunächst der Ortspfarrer aus, weiterhin ein geistlicher Schulinspektor, der vom Bischöflichen Kommissariat im Einvernehmen mit der Regierung ernannt wurde. Der wöchentliche Unterricht war wie folgt verteilt: - Katechismus 2 Std. - biblische Geschichte 2 Std. - Lesen 2 Std. - Rechnen 4 Std. - Schreiben 4 Std. - Erdbeschreibung 1 Std. - Raumlehre 1 Std. - Naturgeschichte 1 Std. - Singen 2 Std. - Handarbeit 3 Std. ------------------------------------------ zusammen 26 Std. Im Jahr gab es 8 Wochen Ferien. Das Amt des Bürgermeisters, die sich in früheren Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbte, wurde nicht gewählt, sondern von den Priestern u.d.gl. vergeben. Wenn der damalige Bürgermeister mit seinem Krückstock durch das Dorf schritt, verstummte der Lärm der Kinder und auch die Erwachsenen nahmen eine achtungsvolle Haltung ein. Unartige Kinder bekamen Prügel und Erwachsenen gegenüber erzwang er sich unbedingte Autorität. Laut Erzählungen der älteren Leute soll die Macht und der Einfluss des Dorfschulzen sogar so stark gewesen sein, dass er die geplante Eisenbahnlinie, die über Sollstedt, Breitenworbis, Worbis, Heiligenstadt verlaufen sollte, verhindert habe. Er habe um sein Fuhrgeschäft gebangt und aus diesen selbstsüchtigen Gründen die geplante Linienführung vereitelt. Breitenworbis war als Knotenpunkt gedacht und sollte als größte Ortschaft im Eichsfeld den Bahnhof bekommen, wie ihn Leinefelde später bekommen hatte. Doch glaube ich, dass man hier die Macht eines kleinen Dorfschulzen sehr überschätzt hat. |
Abschrift Ulrich Eichner 21.03.2001 |